| Das Märchen vom PlettengeistEs war einmal ein fahrendes  Volk, das war unterwegs von dem Meer im Westen in Richtung Osten. So gelangte es  nach monatelanger Reise in das Obere Schlichemtal.
         
  
 Die Schlichem, das  Bächlein, das dem Tal seinen Namen gegeben hatte, plätscherte von Osten her  gemächlich in Richtung Westen. An der Südseite des Tals ragte der 1000 m hohe,  mit dichtem Wald bewachsene Ortenberg in die Höhe; auf der Nordseite erhob sich  der Plettenberg mit seinen 1002 Metern hoch in den Himmel. Unterhalb der  Hochfläche war, durch einen Bergrutsch vor mehreren hundert Jahren, eine Mulde  entstanden. In dieser Mulde hatte sich die Natur mehr noch als an anderen  Stellen behauptet, sodass es hier tatsächlich schien, als sei die Zeit stehen  geblieben. Das armselige Volk  hatte nur wenig besessen. Alles, was die Leute besaßen, war das Hab und Gut, das  sie bei sich hatten. Die Planwagen, in denen sie fuhren, waren schon in die  Jahre gekommen, an manchem fehlten den Rädern schon etliche Speichen. Die verbeulten  Haushaltsgeräte, die an den Seiten der Wagen herabhingen, schlugen während der  Fahrt blechern gegeneinander. 
  
 Das viele Vieh wurde  in Herden hinter den Wagen her getrieben. Die Hühner und die Enten waren in  hölzerne Käfige gesperrt und durften nur bei einer Rast heraus. Wegen der Mühsal  der langen Fahrt kam das reisende Volk zu dem Entschluss, am Anfang des Oberen  Schlichemtals eine Rast einzulegen. Wieder mussten die Wagen aufgestellt, dem  Vieh musste eine Weide gebaut werden. Den Hühnern und Enten wurde, wie immer,  ein Gehege aus gesammeltem Reisig gefertigt. Die Frauen begannen, sich in der  näheren Umgebung nach etwas Essbarem umzusehen, damit sie etwas Abwechslung der  Nahrung hatten; die Männer begannen, sich in der Umgebung nach jagbarem Wild  umzuschauen. Am Abend richteten sie einen Schlafplatz her. Nachdem einige Tage vergangen  waren, kam der Morgen, an dem sie weiterziehen sollten. Doch das friedliche  Fleckchen Erde hatte sie verzaubert.Der Rat trat  zusammen, um zu entscheiden, ob sie noch länger bleiben sollten. Das Klima bot  ja genug zum Leben; Wiesen und Weiden, Schutz und Wasser hatten sie hier im  Überfluss. Ja, lautete der Ratschluss, wir werden bleiben.
 In den nächsten  Tagen suchten die Siedler nach Möglichkeiten, sich Häuser zu errichten.  Unterhalb des Plettenberges, in der Mulde, fanden sie genügend Steine, um  daraus richtige Häuser zu bauen. Die Vielzahl der Steine, die für ein Haus  benötigt werden, mussten sie in mühevoller Arbeit ins Tal schaffen. Wochenlang  sammelten sie nun Steine und trugen sie zum Hausbau zusammen – und dann geschah  das Seltsame: Die Arbeiter glaubten, dass irgendetwas im Tannendickicht säße  und lauere. Es wurde ihnen unheimlich zumute, wenn sie in die Schlucht unter  den Plettenberg gingen. Waren da oben Geister im Berg, die den Menschen Bösen  antun wollten? War es nun so weit, dass sie weiterziehen mussten? Doch die  Siedler wollten sich nicht vertreiben lassen. Sie blieben.  
 So kam es aber,  dass sie die Umgebung unterhalb vom Plettenberg genauer erkundeten; sie konnten  nichts entdecken, dennoch beherrschte von nun an Angst den Steinabbau am Berg.  Und auch wenn unten im Dorf noch niemals etwas gesehen worden war – im  Steinbruch wurden sie das Gefühl nicht los, von jemandem belauert zu werden.
   Eines Tages wagten  sich ein paar Kinder in diesen unheimlichen finsteren Teil vom Plettenberg –  den „Plettenkeller“. Auch sie hatten das bedrückende Gefühl, dass jemand im  Tannwald hocke und sie mit den Augen verfolge. Unheimliche Geräusche machten  den Kindern Angst. Und plötzlich erblickten die Kinder hinter einem  riesengroßen Stein eine in Lumpen gekleidete abschreckende Gestalt. Mit all  ihrem Mut schlichen sie der Gestalt nach, als sie sich zum Gehen anschickte und  endlich in einer Berghöhle verschwand, in der sie zu wohnen schien. Die Kinder versuchten  hineinzuschauen, ängstlich und neugierig reckten sie die Hälse: Drinnen erkannten  sie Umrisse von Gegenständen. Dann aber fuhren sie erschrocken herum – die alte  gruselige Gestalt stand plötzlich hinter ihnen. Sie sahen auch, dass ihnen der  Weg zurück in den Wald versperrt war: Der unheimliche Geselle stand steif und  fest in der Schlucht, ein Vorbeikommen war nicht möglich. Sogleich hob der Alte  mit knarrender Stimme zu sprechen an, die schauerlich durch den Plettenkeller  hallte. Er fragte die Kinder, was sie hier wollten. „Der Berg gehört mir“, stieß  er zwischen den Zähnen hervor, „und meine Wohnung soll keiner finden!“ Den  Kindern wurde es Angst und Bange. Der Schreck saß so tief, dass sie keine  Antwort geben konnten. Und weil es keinen Ausweg mehr gab durch die Schlucht,  die der grauenvolle Alte versperrte, fingen alle Kinder an zu weinen und baten den  schrecklichen Mann ihnen nichts zu tun. Dadurch wurden die guten Gefühle ihn  ihm geweckt, er wiegte seinen hässlichen Kopf hin und her und sprach, etwas  freundlicher, wenn auch mit merklichem Zorn: „Ich lebe hier nun schon seit  vielen Jahren unter dem Plettenberg, bis ihr gekommen seid und meine Ruhe  gestört habt.“ Und plötzlich donnerte er: „Ich will hier allein bleiben! Und euer  Volk bleibt unten im Tal!“ Die Kinder, die es in Todesangst durchfuhr,  stammelten: „Wir können das den Erwachsenen sagen, aber sie werden wohl nicht  auf uns hören.“ Laut schrie der Einsiedler: „Nein, das werdet ihr nicht tun,  die Leute im Tal dürfen nichts von mir erfahren!“ Und mit eindringlichen  Worten: „Ihr müsst mir versprechen zu keinem Menschen ein Wort über mich zu  erzählen.“ Dann wurde seine Stimme wieder zornig: „Wenn auch nur einer von euch  etwas über die Höhle und mich erzählt, wird über die Kinder im Tal ein Fluch  kommen.“  Die Kinder brachten  vor Angst fast kein Wort mehr über ihre Lippen. Doch eines nahm sich allen Mut  zusammen und sprach zu dem Einsiedler: „Wir versprechen es dir, nichts über  dich und die Höhle zu sagen.“ Diese Worte waren so ehrlich ausgedrückt, dass  der Einsiedler Gnade walten ließ. Er trat einen Schritt zur Seite und knatterte:  „Nun weg mit euch, geht zurück ins Tal und kommt nie, nie wieder her.“ Die  Kinder liefen, so schnell sie nur konnten und ohne sich noch einmal umzudrehen,  ins Tal. Doch es geschah,  wie es geschehen musste: Sie konnten das Erlebnis vor den Erwachsenen nicht  verheimlichen. So brach am nächsten Tag ein Trupp Männer in den Plettenkeller  auf, um den alten Einsiedler zu suchen. Nach Stunden entdeckte einer von ihnen  die Höhle. „Komm heraus, wir wollen dir nichts Böses anhaben“, riefen die  Männer. Doch es rührte sich nichts. Nachdem die Männer noch einmal gerufen  hatten „Komm heraus, sonst kommen wir hinnen und holen dich“, schlurfte ganz  leise und gebückt die alte grausige Gestalt heraus, sah die Männer sonderbar an  und sprach: „Haben mich die Kinder verraten? Mein Fluch wird sie für alle Zeit  treffen.“ Den Männern schienen das nur leere Worte zu sein. Eine Gefahr für die  Dorfbewohner stellte der alte Einsiedler wohl nicht dar. So gingen wieder  Monate ins Land, die Siedler hatten von dem Einsiedler nichts mehr gehört. Eines  Tages, beim Steineholen, suchten die Männer den Greis, fanden jedoch keine  Spuren mehr von ihm. Die Jahre  vergingen, und bald dachte niemand mehr an den Einsiedler im Plettenkeller. Die  Kinder, die den „Geist im Plettenkeller“ entdeckt hatten, wurden selbst  erwachsen, und der Fluch, der die Kinder treffen sollte, war längst vergessen. 
     Und so kam es, dass  wieder Kinder, ohne den Erwachsenen etwas zu sagen, in den Plettenkeller zum  Spielen gingen. Dabei entdeckten auch sie die Höhle des längst vergessenen  Greises. Als sie der Höhle näherkamen, erschien ihnen eine Gestalt, die dem  alten Einsiedler ähnlich war. Die Gestalt wandelte auf die Kinder zu und sprach  dabei: „Kinder haben mich damals, nach dem Versprechen, verraten.“ Und mit  leiser Stimme fuhr der Geist fort: „Ihr aber werdet nun den Fluch ernten, den  ich damals angekündigt habe.“ Sodann erhob er die Stimme und sprach die  Beschwörungsformel: „Plaigte, Plaigte, lass die Kinder eins werden mit dir und  sie auf ewig hier im Plettenkeller als Steine verweilen.“ Kaum waren die  Worte ausgesprochen, ging ein Grollen durch den Waldboden, und der Boden  erzitterte. Die Kinder wollten noch schnell weglaufen, doch der Fluch hatte  bereits seinen Anfang genommen: Eines nach dem Anderen wurde von der Plaigte in  Besitz genommen. Die Kinder wurden nacheinander in riesengroße Felsen  verwandelt. Keines von ihnen entkam dem Fluch des „Plettengeistes“.  Weiter vergingen  die Jahre im Oberen Schlichemtal. Die Ereignisse wurden aber nie vergessen, und  die Kinder durften nicht mehr allein in den Plettenkeller gehen. Unter dem  Plettenberg im Plettenkeller sind heute noch die großen Felsen der  verwunschenen Kinder zu sehen.  
 Autor und Copyright byDietmar Walter
Lektorat: Katrin Ernst aus Leipzig |